#65 (Emily)

In dem Moment, in dem sich die Türen der U-Bahn ratternd schließen, höre ich meinen Puls. Er ist schneller als er sein sollte. Ich sehe einen freien Platz am Fenster in einem 4er Abteil. Ich würde gern sitzen, aber ich kann da nicht hingehen. Ich stelle mich in die Nische neben die Tür wo ich mich an eine Glasscheibe anlehnen kann, wenn der Zug bremst, so dass ich keine der Haltestangen berühren muss. Ich hole tief Luft. Ich hätte durch den Mund tief Luft holen sollen. Mir wird schwindlig. Ich rieche. Abgeschliffenes Metall. Maschinenöl. Reinigungsmittel. Knoblauch. Deo. Pfefferminz. Blumiges Parfum. Chinanudeln. Mundgeruch, Schweiß, Pisse. Ich fahre mir mit dem Handrücken über den Mund, als würde ich meine Lippen trocknen. Meine Hand riecht noch nach Seife, ich mache langsam. Ich atme langsm ein und aus und ein und aus. Aber nicht zu tief. Ich sehe Knöpfe, die krampfhaft ihren Platz auf einem dicken Bauch bewahren. Ich sehe eine Zunge, die braunes Kaugummi zwischen den Zähnen wendet. Ich sehe goldene Kreolen, die im Rhythmus, den die Gleise vorgeben gegen einen feuchtglänzenden Hals schlagen. Ich sehe Stoppeln von Brusthaar, die sich anschicken den bläulichen Schriftzug Emily zu überdecken. Es ist etwas Schönes an jedem Menschen, denke ich. Und wenn du es nicht siehst, wirfst du den falschen Blick. Ich hole mein Telefon aus der Tasche und richte meinen Blick darauf. Ich habe 67 Herzen auf Instagram abgestaubt sagt das Banner. Ich sage: Aber. Ich stecke mein Telefon in die Tasche zurück und sehe den Mann mit dem Emily-Tattoo so lange an, bis er es merkt. Das ist die Wirklichkeit, denke ich. Das ist mein Splitter Wirklichkeit, berichtige ich mich, denn ich habe keine Ahnung, wer Emily ist. Es ist Sommer. Ich bin wieder Berlin. Ich fahre wieder U7. Ich hatte sechs Wochen lang zu Hause das Bein hochzulegen. Das macht empfindlich.



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