#39

Ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht „Hey Markus!“ zu rufen, als ich Markus‘ Wohnung betrete. Ich versuche zu überschlagen, wie oft ich in den letzten zehn Jahren Markus‘ Wohnung betreten und „Hey Markus!“ gerufen habe, aber als die Zahl dreistellig wird, gebe ich auf. Markus hat die Angewohnheit, die Wohnungstür schon anzulehnen, wenn er den Türöffner der Haustür betätigt, so dass es nichts Ungewöhnliches für mich ist, in seine Wohnung zu gehen und ihn nicht sofort zu sehen und nicht sofort zu wissen, wo er ist. Heute weiß ich, warum ich ihn nicht sehe: Er ist nicht hier. Und heute rufe ich nicht, denn in seinem Krankenbett kann er mich nicht hören.

Er hat mir eine Liste geschrieben, mit Dingen, die er braucht: Zahnbürste, Rasierer, Unterhosen, Deo, Zeug. Ich gehe zu seinem Schreibtisch, sichere seine Dokumente und fahre seinen Rechner runter. Der gestern frisch gepresste Orangensaft neben dem Laptop ist ein Eintagsfliegenmassengrab, ich schütte ihn weg. Den Kaffee, schütte ich auch weg. Ich durchsuche Schubladen, in der Hoffnung seine Ersatzschlüssel zu finden. Ich laufe alle Steckdosen ab, auf der Suche nach seinem Handyladegerät. Ich gehe pinkeln, weil es mich beruhigt, irgendetwas hier wie immer zu machen.

Ich habe allen erzählt, Markus hätte eine fabelhafte Wohnung. Ich hielt Markus‘ Wohnung für fabelhaft, weil es mir immer gut ging hier. Heute ist nichts wie immer und manches nicht mehr wie vorher. Eine Wohnung ist eine Wohnung. Ich leere den Briefkasten und bringe den Müll raus.



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