Wie manche ohne ein gutes Buch nicht einschlafen können, kann ich ohne den Deutschlandfunk nicht wach werden. Nur kurz vor acht muss ihn ausschalten, da kommt Sport, und kurz nach halb sieben, da kommt die Morgenandacht. Beides regt mich auf.
Gestern war ich im Bad, als die Pfarrerin zu sprechen anfing, und als mein Finger endlich auf dem Ausschalter des Radios im Wohnzimmer lag, hatte sie schon gewonnen. Ihr Trick war listig, sie las die ersten Zeilen eines Romans, den ich sehr liebe. Sie las aus Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Sie erklärte, dass das Jugendbuch in Wirklichkeit für Erwachsene ist, und der Roadmovie-Plot eigentlich beschreibt, worauf es im Leben ankommt. Bis hierhin waren wir uns einig. Als sie dann aber (man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen) „das Fazit“ verkündete, dass im Leben vieles anders sei, als es scheine, war mir als beiße ich in eine Zitrone. Aber wie man bei einem sich zutragenden Unfall nicht wegsehen kann, konnte ich auch jetzt nicht das rettende Knöpfchen drücken. Also erklärte mir die Pfarrerin als abschließend:
„Was bleibt, ist die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Barmherzigkeit, auf die wir alle – in unserer je eigenen Weise – angewiesen sind. Das gilt leider auch für den Autor des Buches, der im letzten Jahr mit gerade mal 48 Jahren starb.“
Ich musste dann schnell zurück ins Bad.
Wolfgang Herrndorf starb nicht. Er hat sich erschossen. Er hat sich erschossen, weil es für ihn leider keiner Barmherzigkeit gab, sondern einige Hirntumore eifrig dabei waren, „Gemüse aus ihm zu machen“. Und zwar ausgerechnet zu der Zeit, als eben dieser Roman abging wie eine Rakete, und er sich zum ersten Mal im Leben eine Wohnung mit Terrasse leisten konnte. In den Tagebüchern, die er während seiner Krankheit schrieb, beschimpft er die katholische Kirche für ihre alles andere als barmherzige Einstellung zu selbstbestimmtem Leben und: Sterben.
Und die Moral von der Geschicht? Versteht die Dame leider nicht.
Kommentar verfassen