#56

Ich lege mein Telefon vor mich auf den Tisch und sehe auf. Die Frau gegenüber nickt mir anerkennend zu. Ich überlege, ob ich sie kenne: Mitte 60, kurze karamellbraune Haare, wache dunkle Augen, strahlenförmige Falten um den schmalen Mund, großer silberner Schmuck. Ich kenne sie nicht. Ich lache irritiert. Sie sagt:

„Naja.“
„Naja was?“, frage ich.
„Hätte ich nicht gedacht, dass sie das Ding noch mal aus der Hand legen, bevor wir Leipzig erreichen.“, sagt sie.
„Wieso?“, frage ich.
„Seit ich in Gesundbrunnen eingestiegen bin, starren Sie in diesen kleinen Kasten.“, erklärt sie.
„Und Sie? Sie beobachten mich seitdem.“, stelle ich fest.
„Sie sitzen mir direkt gegenüber. Draußen die immergleichen Felder. Wohin soll ich denn gucken?“
„Dann lesen sie doch was.“
„Ja, meine Generation liest noch. Aber Ihre starrt nur noch in diese Kästen. In der U-Bahn, in Restaurants, überall.“
„Als wäre Lesen mehr wert. Vom Fitzek-Lesen wird man auch nicht klüger.“
„Was haben Sie denn gegen Fitzek?“
„Egal. Ich habe jedenfalls gearbeitet.“
„Nachts?“
„Was?“
„Es ist noch nicht einmal acht Uhr und sie haben schon gearbeitet?“
„Ja.“
„Und da brauchen Sie jetzt Entspannung? Und da spielen Sie mit diesem Kasten?“
„Was?“
„Machen Sie auch dieses Spiel mit diesen Bonbons, die man in Dreiereihen legen muss? Mein Enkel! Den ganzen Tag!“
„Nein. Ich habe nicht gespielt. Ich habe gearbeitet.“
„Gearbeitet! Mit diesem kleinen Kasten?“
„Na klar.“
„Soso.“ Die Frau lächelt milde und stiert hinaus in die Felder.
„Entschuldigung?“ Mir bleibt der Mund offen stehen.
„Es geht mich ja auch nichts an.“ Die Frau schüttelt mit dem Kopf.
„Genau. Es geht sie überhaupt nichts an!“ Ich schüttele mit dem Kopf.

Ich beiße mir auf die Lippen und stiere ebenfalls hinaus in die Felder. Im Fenster spiegelt sich ihr Gesicht und meins. Über die Reflexionen schauen wir einander spiegelverkerht in die Augen.

„Es geht sie zwar nichts an,“ sage ich schließlich zum Fensterglas, „aber wenn Sie wissen wollen, was ich gearbeitet habe, zeige ich es Ihnen.“
„Nein, lassen Sie nur.“, sagt die Frau und fokussiert wieder die Felder. „Ich verstehe nichts davon.“
„Aber Sie urteilen.“, sage ich. „Und wenn sie urteilen wollen, sollten Sie es verstehen.“
„Ich habe Sie nicht verurteilt, ich habe Sie nur beobachtet.“, rechtfertigt Sie sich.
„Gut, aber Sie haben nicht verstanden, wobei.“, halte ich dagegen.
„Geht mich auch nichts an.“
„Ich habe ein Gedicht redigiert. Zusammen mit mit zwei Freunden habe ich einen Blog. Eine Internetseite. Wir veröffentlichen Gedichte. Die eine Freundin hat mir eins geschickt. Ich habe eben an den Rand geschrieben, was die Metaphern für mich bedeuten.“
„Mit diesem Kasten.“
„Genau. Und dann habe ich eine Kurzgeschichte korrigiert. Rechtschreibfehler rausgemacht und Kommas rein. Die hat mir der andere Freund gemailt. Und dann habe ich diese beiden Texte wieder zurück an meine Freunde geschickt, damit sie weiter daran arbeiten können.“
„Während der Fahrt.“
„Natürlich. Es heißt ja Mobilfunk. Und anschließend habe ich Französisch gelernt. Heute: Fragen. ‚Est-ce que‘ und so.“
„Jetzt eben.“
„Ja. Wollen Sie eine Runde?“
„Was?“
„Französisch-Vokabeln. Ist ganz leicht zu bedienen.“
„Um Himmels Willen! Ich spreche kein Wort Französisch.“
„Ich bis vor einem Monat auch nicht. Jetzt sind es immerhin ein paar Hundert Wörter.“
„Und das machen Sie alles mit diesem Ding?“
„Mit diesem kleinen Kasten, genau.“
„Sind sie Informatiker?“
„Nein! Ich schreibe Gedichte!“
„Was kostet sowas denn?“



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