Wenn ich von Zuhause träume, träume ich von Leipzig. Wenn mir alles zuviel wird und ich mich am liebsten verkriechen möchte, möchte ich mich in Leipzig verkriechen. Wenn ich mit Menschen über die schönste Stadt Deutschlands spreche, und das tue ich oft beim Job-Smalltalk, dann entscheide ich mich für Leipzig, nach dem ich Berlin, München und Hamburg ausgeschlossen habe.
Als ich dir meine Stadt zeigte, letztes Wochenende, warst du sofort verliebt. Niemand versteht das besser als ich. Du hast angefangen Pläne zu machen, um mit mir nach Leipzig zu ziehen, und ich war überrascht, dass sich diese Idee für mich auch nach einer Nacht noch anfühlte wie vorwärts kommen – nicht wie zurückgehen.
Wir spazierten an einem Sonntag der diesem Namen Ehre machte durch die Innenstadt und sprachen über die Plakate für die Landtagswahl an den Laternen. Manche witzig, manche plump, manche öde – keine von der AfD. Wir ließen uns gern von der SPD auf zwei Kugeln Eis einladen – zur Auswahl standen alle Sorten außer Schlumpf – und sprachen mit den Kandidaten, freundlich aber unverbindlich, floskelhaft. „Politik muss wieder näher bei den Menschen sein.“ Manche dieser Menschen sind ziemlich weit draußen, Politik hätte es weit bis dahin, zumal gute. Das sagte ich nicht. Ich dachte es nur.
Ein paar Meter weiter entdeckte ich einen Stand der Omas gegen rechts und war berührt. Diese Damen stehen bei mehr als 30° im Schatten mit zu Demoplakaten erweiterten Sonnenschirmchen in der Fußgängerzone und werben freundlich und nahbar für den Erhalt unserer Demokratie. Ich lächelte und wir kamen ins Gespräch. Nein, keine von ihnen sei alt genug um die Machtergreifung der Nazis noch persönlich zu erinnern. Aber jede einzelne von ihnen ist trotz unterschiedlicher politischer Positionen lebenserfahren genug um zu wissen, dass unsere Freiheit auf dem Spiel steht, wenn „die Schlümpfe“ an die Macht kommen. Das klang auch erst floskelhaft – dann aber sehr konkret.
Du erzähltest der Dame von deiner Begeisterung für diese schöne Stadt und warum sie dir viel besser gefalle als Hamburg. Weniger Verkehr, weniger Baustellen, alles so sauber und frisch, alles so schön kompakt. Die Dame strahlte. Als du ihr jedoch in deinem guten aber eben nicht akzentfreien Deutsch sagtest, dass wir sogar überlegen würden, hierher zu ziehen, wurde ihr Lächeln schmal und sie legte den Kopf schief. „Überlegt euch das gut“, sagte sie. Der Ton ihrer Analyse war freundlich, aber ihre Nüchternheit traf mich kalt. „Du siehst nicht ausländisch aus, aber man hört, dass du nicht von hier bist. Das reicht inzwischen, um sich hier gelgentlich blöde Kommentare anhören zu müssen. Jede Woche kommt es auch zu körperlichen Übergriffen gegen Ausländer. Manchmal werden sie gejagt. Und so schön es ist, dass ihr eurer Liebe Ausdruck verleiht und hier Hand in Hand durch die Stadt schlendert – auch das kann man als schwules Paar nicht überall in Leipzig in Sicherheit. Letzte Woche wollten die Nazis gegen die Pride-Demo aufmarschieren. Wartet lieber erstmal die Wahl ab, bevor ihr eure Planung weitertreibt.“
Unser Spaziergang verlief stiller danach. In den Gesichtern der Passanten suchte ich nach Indizien. Wählen Menschen mit Zornesfalten auf der Stirn AfD? Menschen mit dicken Tränensäcken? Menschen, denen beim Bratwurstessen, der Senf auf den beigen Faltenrock tropft? Gucken die Leute, wenn ich deine Hand halte? Drehen sie sich um? Wird über uns getuschelt? Auf uns gezeigt? Oder entlädt sich die Agression erst in der Wahlkabine? Bilde ich mir das alles nur ein? „Entspann dich mal ein bisschen.“, sagst du. Ich entspanne mich.
Als Ossi im Exil werde ich in diesen Tagen häufiger gefragt, was ich von den Wahlprognosen aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg halte – ich finde sie schockierend – und ob ich sie erklären könnte – das kann ich nicht. Keiner meiner Freunde ist ein Schlumpf. Manche alte Bekannte hingegen schon. Aber das Gerede von „denen da oben, die es allen, die kommen vorne und hinten reinblasen, und sich selber die Taschen voll machen, während für unsre Leute nichts da ist“, ist für mich so unterkomplex, denkfaul, klischeehaft, unzutreffend und einfach dumm, dass ich daran inellektuell abpralle. Es klingt deshalb arrogant, weil es arrogant ist: Sorry, aber dass ist mir zu blöd. Ich möchte diese Menschen nicht mehr verstehen, ich möchte ihnen nichts erklären, ich möchte auch nicht länger ihre Sorgen ernst nehmen müssen, sondern wünsche mir, sie nähmen endlich meine ernst:
Ich bin schwul. Der Mann, den ich liebe ist kein Deutscher. Ich möchte bitte trotzdem ohne dumme Sprüche, Übergriffe oder Gegendemos von Faschisten in meiner Heimatstadt leben können. Ich möchte darüber hinaus, dass alle leben können, wie sie sollen, solange der kant’sche Grundsatz, dass die Freiheit des einen dort endet, wo die des anderen beginnt, gewahrt ist. Wir müssen leider alle damit klar kommen in einer Welt mit zahlreichen komplexen Krisen zu leben und wir müssen alle die damit einhergehende Ambivalenz aushalten. Es gibt keine einfachen Lösungen, keine perfekten und schon gar keine schnellen. Ich möchte niemanden vor dieser Komplexität bewahren müssen. Kommt bitte klar, ich möchte nicht für euch klarkommen müssen.
Womit ich mal klarkommen müsste: Wahlen sind auch dann demokratisch, wenn nicht das rauskommt, das ich mir wünsche. Aber muss ich dauch damit klarkommen, das eine demokratische Wahl von einer Partei gewonnen wird, die die Demokratie abschaffen will?
Du zuckst mit den Schultern. „Wenn es mir wo nicht mehr gefällt, gehe ich woanders hin. So habe ich es immer gemacht. Du doch auch.“
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