Wenn mir die Leute, denen ich auf einem Klassentreffen begegne, wichtig wären, bräuchte ich kein Klassentreffen. Ich würde ihnen auch im Leben begegnen. Ich hätte Kontakt gehalten über die Jahre. Wenn der Kontakt abgerissen ist, ist das auch gut. Menschen kommen und gehen, manche bleiben an deiner Seite für eine Weile, die wenigsten für immer. Ich bin Mitte vierzig, ich sollte mich daran gewöhnt haben.
Ich habe heute Abend Klassentreffen. Ich bin 400 km gefahren, um daran teilzunehmen. Ich schenke dem großen Wiedersehen ein Wochenende. Was ich immer über Klassentreffen dachte, stimmt offenbar nicht mehr für mich. Was treibt mich?
Ich bin ein sehr sentimentaler Mensch. Ich leide unter einer beinahe krankhaften Glorifizierung der Vergangenheit. Als Rentner werde ich ein Früher-war-alles-besser-Nörgler sein. In meiner Erinnerung sind meine Teenager-Jahre eine Zeit voller Chancen. Jeden Tag habe ich etwas zum ersten Mal gemacht oder zum ersten Mal gefühlt. Ich stand am Beginn eines Weges von dem jede Entscheidung einen Abzweig bildete, der neue Entdeckungen für mich bereithielt. Ich war teil einer Gemeinschaft aus sehr unterschiedlichen Charakteren, gleichsam Teil eines Dorfes – das Dorf war die Oberstufe – aber wie alle anderen in Begriff auszufliegen und ich selbst zu werden. Ich war noch behütet, aber ein warmer Wind säuselte schon den Geruch der Freiheit (und verschwieg die damit einhergehende Verantwortung). Ein Teil von mir wünscht sich, heute Abend in dieses Dorf zurückkehren zu können. Ein anderer Teil weiß: Ich werde nur noch Ruinen vorfinden, Grundmauern, vielleicht ein paar alte Fotos in vermoderten Alben.
Ich führe seit Jahrzehnten Tagebuch, hauptsächlich um dieser Vergangenheitsglorifzierung entgegenzutreten. Ich kann nachlesen, wie meine Teenagerjahre wirklich waren: furchtbar. Ich war ungeoutet in einem homophoben Umfeld. Ich war verliebt in meinen besten Freund, der wiederum in wechselnde Mädchen verliebt war und von meinen Gefühlen nichts wissen durfte. Ich hatte weder Markenklamotten, noch einen Pentium-PC, noch Geld für Auslandsklassenfahrten. Meine Mutter war alleinerziehend, wir waren arm. Außerdem wurde sie in dieser Zeit sehr krank. So krank, dass ich mich mehr um sie kümmern musste, als ich mich um mich kümmern konnte. Ich lese das manchmal nach. Dann empfinde ich stolz darauf, was aus mir geworden ist und freue mich darüber, dass das Leben vorwärts verläuft.
Auch deswegen habe ich Klassentreffen immer abgelehnt: Ihr einziger Zweck ist die Befriedigung der voyeuristischen Neugier darauf, was aus wem geworden ist. Wer ist dick geworden? Wer ist alt geworden? Wen haben Schicksalsschläge getroffen? Ich bin dick geworden, ich bin alt geworden, ich hatte Schicksal. Alle anderen auch, glaube ich. Es geht darum, sich zu anderen ins Verhältnis zu setzen: Wie gut habe ich mich geschlagen? Wie weit bin ich gekommen? Wie richtig habe ich gelebt bis hierher? Besser? Weiter? Richtiger? – Als wer? Und wenn nicht?
Am Ende geht es immer um einen selbst: Wie zufrieden bin ich damit, was aus mir geworden ist? In der Oberstufe war ich der bunte Vogel, der Kreative. Ich habe Theater gespielt und geschrieben. Ich war populär. Eine Schulfreundin sagte mir auf dem Abiball, dass ich bestimmt mal beim Fernsehen lande. Oder Schriftsteller werde. Ich habe tatsächlich Kunst studiert und gemacht und ich schreibe nach wie vor Dinge ins Internet – meistens aus Sentimentalität oder Panik und eigentlich mehr für mich als für andere. Aber Schriftsteller, Schauspieler oder wenigstens Moderator bin ich nicht geworden. Stattdessen Director of Business Operations & Customer Success. Bitte was? Hohes Tier? Rich Cat? Business-Kasper mit fluffigem Fantasie-Job-Title? Ok, wow.
Beim Schreiben dieses Textes merke ich: Ich kann nur deshalb heute Abend zum Klassentreffen gehen, weil ich zufrieden mit mir bin. Falls mir jemand sein Haus, sein Auto, sein Boot auf seinem Smartphone zeigen will, kann ich mich neidlos freuen. Meinetwegen bin ich – leider, leider – nicht berühmt geworden, sondern nur ein Angestellter im Management. Geworden bin ich aber auch: ein Lucky Bastard.
Ich habe eine Liebe in meinem Leben, die so nah an dem ist, was ich mir immer erträumt habe, dass mir manchmal wortwörtlich die Luft wegbleibt. Ich habe einen Job, der mich erfüllt, auch wenn er anstrengend ist. Ich habe genug Geld. Ich lebe in der Stadt, in der ich leben wollte, seitdem ich sie zum ersten Mal besuchte, und die hält, was sie mir versprochen hat. Ich lebe in Freiheit und kann mich so einbringen, wie ich will. Ich habe genug Zeit. Ich bin gesund. Ich bin gereist. Ich bin belesen. Ich kann deshalb heute Abend zum Klassentreffen gehen, weil ich nicht das Gefühl habe, etwas verpasst zu haben. Das Lachen nicht, das Lieben nicht und – naja, auch nicht das Leiden.
Klar, Ich habe graue Schläfen, Falten um die Augen, gelbe Zähne und fünfzehn Kilo zuviel auf den Hüften. Das sind Gebrauchsspuren. Die sind entstanden, als ich meinen Körper und mich dafür gebraucht habe, wofür wir gemacht sind. Die haben andere auch. Oder auch nicht. Fein für mich.
Ich will mich ehrlich interessieren, heute Abend. Ich will Geschichten hören, Biografien, Überraschungen. Die Neonfarben der Neunziger. Ich will alte Freunde treffen und einfach mal gucken, ob sich lose Enden vielleicht wieder verknoten lassen. Ich will mich erinnern, ohne sentimental zu werden. Wäre das alte nicht vergangen, wäre ich nicht hier.
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