Ich habe drei Pullis und Hosen so lange kombiniert, bis ich eine Kombination gefunden habe, die ich fühle. Pffft. Ich trage Jeans und Sweater, niemand wird vermuten, dass ich mir Gedanken um mein Outfit gemacht habe. Genau so will ich aussehen. Aber eben gut. Ich liege etwas zu stark parfümiert auf dem Hotelbett und lasse Zeit vergehen. Ich will nicht zu pünktlich sein. Auf keinen Fall der Erste. Ich parke in Sichtweite zum Restaurant, aber natürlich auf gar keinen Fall direkt davor.
Vor dem Restaurant stehen sieben Menschen und unterhalten sich. Sie rauchen. Ich möchte einfach wieder fahren. Noch hat mich niemand gesehen. Ich kenne keinen von diesen Menschen. Ich denke: Die sehen alt aus. Dann fällt mir auf: Die sind nicht älter als ich. Ich denke: Ich kann da nicht hingehen. Wenn ich aus dem Auto steige, habe ich noch 30 Schritte. Wenn ich dann immer noch niemanden erkannt habe, wird es peinlich. Vielleicht bleibt es dann peinlich für mindestens zwei Stunden, bis ich wieder gehen kann. Ich spüre, wie meine Angst größer wird und ich kenne mich: Wenn ich jetzt nicht aussteige, steige ich nicht mehr aus. Ich steige aus.
Die Rauchenden gehen ins Lokal. Mein Blick fällt auf einen anderen Mann, der langsam auf mich zu kommt. Er sieht sympathisch aus. Ich erkenne ihn. Er hat jetzt einen vollen Bart und ist etwas runder geworden. Aber es ist ganz eindeutig – Peter? Robert? „Hey Peter!“, „Robert. Aber hi!“. Das ist mir kurz unangenehm, aber dann schnell okay. Mehr als das. Wir sprechen nicht über mein Haus, mein Auto, mein Boot, sondern nach zwei Sätzen über: Patricia Barber. 25 Jahre nach dem wir uns zuletzt gesehen haben, sprechen wir erst einmal über Jazz. Ich entspanne mich. Nach zwei Minuten kommen weitere Leute dazu. Und es ist so, wie es den ganzen Abend bleiben wird. Ich erkenne jedes Gesicht. Bei manchen Namen brauche ich Hilfe. Die Rauchenden waren Teil einer anderen Gruppe. Wir gehen rein.
Ich bin ehrlich überrascht. Mir ist das zu cheesy, aber: Ich bin berührt. Wie gut sich das anfühlt! Ich begrüße Menschen mit einer Umarmung, die ich seit 25 Jahren nicht gesehen habe. Manche von ihnen habe ich niemals vorher umarmt. Die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten war so wichtig, so prägend, dass sie uns zu einer Gruppe gemacht hat, die offenbar immer noch funktioniert, (und ich sparsam mit diesem Wort, aber hier gehört es hin:) irgendwie. Wir teilen eine gemeinsame Geschichte, an die sich anknüpfen lässt. An die dumm ist, nicht anzuknüpfen, denn die Geschichte geht nirgendwo hin. Mit manchen endlich wieder zu sprechen, macht mir ein Gefühl von Erleichterung, eine milde Form von gestillter Sehnsucht, die ich vorher offenbar nicht stark genug empfunden habe, um sie zu adressieren.
In den folgenden Stunden genießen wir, einander Einblick zu geben, was seitdem passiert ist – und wir sind ehrlich dabei. Natürlich höre ich von beeindruckenden Karrieren, besonders gut geratenen Kindern und erstaunlichen Reisen. Aber wir sprechen auch über lähmende Depressionen, irreversible Krankheiten und falsche berufliche Entscheidungen. Über die Suche nach Bedeutung. Über den Sinn des Ganzen. Über den Sinn des Einzelnen. Wir sprechen über Politik und ich entdecke Perspektiven, die mich besser verstehen lassen, warum in meiner Heimat inzwischen so häufig AfD gewählt wird. Ich entdecke Sympathisches an Menschen, mit denen ich zu Schulzeiten nie zu tun hatte und haben wollte. Und ich entdecke viel Vertrautes wieder.
Ja, wir sind alle älter geworden, einige dicker, andere sehr dünn. Aber darum geht es gar nicht. Es geht um das, was wir ge-, er- und überlebt haben. Wir haben uns entwickelt. Sind Zeugen von Wundern geworden. Haben Langeweile und Stagnation getrotzt. Ich habe einen fantastischen Abend.
Aber ich komme mir zwischendurch auch immer wieder bescheuert vor. Dumm. Arrogant. Ich habe Anflüge von Reue und von Pffft. 2004 gab es wohl schon einmal ein Klassentreffen. Damals bin ich nicht hingegangen, obwohl ich statt 400 km nur 4 km hätte anreisen müssen. Ich fühlte mich diesem Kreis entwachsen. Wollte hinter mir lassen, wo ich herkam, weil ich so sehr hinwollte, wo ich hinwollte. Aber diese gemeinsame Geschichte geht nirgendwo hin und es ist so eine Verschwendung, nicht an sie anzuknüpfen. Ich habe unterschätzt, was das wert ist: langjährige Freundschaft. Da bleiben. Beieinander. Wenigstens in Sichtweite. Wenigstens zu Besuch.
Anna und Carolin reden über Kinder. Carolin hat drei, Anna keine. Wie ich. Anna hatte nie das Bedürfnis. Carolin kann das verstehen. Anna sagt, dass sie sich manchmal davor fürchet, ihre Freiheit und Unabhängigkeit jetzt mit Einsamkeit im Alter bezahlen zu müssen. Wie ich. Carolin sagt, dass sie ihre Kinder über alles liebt und sich ihnen wirklich gerne schenkt jetzt mit Haut und Haaren. Und dann sagt sie, dass sie sich manchmal davor fürchtet ihre traute Familie jetzt mit Einsamkeit im Alter bezahlen zu müssen. Sie pflegt ihre Freundschaften zu wenig. Kinder fliegen aus. Freunde bleiben.
Tatäschlich sind einige der Menschen in diesem Klassenverband so nah beieinander geblieben, dass sie inzwischen 35 Jahre befreundet sind. Das ist sehr nah an schon immer für Menschen die Mitte 40 sind. Sie leben im gleichen Stadteil, ihre Kinder tanzen im gleichen Verein. Man kennt sich. Wirklich.
Wir versprechen einander, nicht 25 Jahre bis zum nächsten Wiedersehen zu warten.
Ich habe Schnaps getrunken und darf sentimental sein: Mich berührt, dass mir manche das Gefühl geben, ich könnte sie auch nach all den Jahren einfach anrufen, wenn ich sie brauche. Keine Fragen, keine Vorwürfe. Ich fühle mich beschenkt. Ich nehme mir vor, was draus zu machen.
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