Ich mag Menschen. Ich bin ein freundliches Gemüt und erkenne in jedem Gesicht etwas Liebenswertes, Hübsches, Anziehendes usw. usf. Dieses Philantropie-Relais in meinem Kopf kriegt allerdings ein bisschen zu viel Strom und deshalb setzt es manchmal für ein paar Minuten aus. Wenn das passiert, während ich mich in einer U-Bahn irgendwo unter Berlin aufhalte, kriege ich Panik. Ich sehe einen Mann mit einer riesigen Warze am Kopf, genau an der Stelle, an der man sich einen Kopfschuss verpassen würde. Ich verstehe nicht, wie Menschen Warzen in ihren Gesichtern dulden können. Ich sehe eine Frau eine Pizzazunge essen, und wie sie den auf ihren Lippen klebenden Käse mit den Zähnen in den Mund zieht, ekelt mich an. Ich muss mir vorstellen, wie sie mit ihren Käsefingern gleich eine Haltestange anfässt und wie viele Menschen die Haltestangen mit was weiß ich für Fingern vor ihr schon angefasst haben. Ich rieche Mundgeruch und Furzgeruch und Urin und als ich mich umdrehe und den Obdachlosen sehe, der mir sein Becherchen unter die Nase hält, muss ich weglaufen. Ich laufe zur nächsten Tür und zur übernächsten und der Obdachlose guckt entgeistert und ich gucke auf den Boden. Ich bin heilfroh, dass der Zug gerade hält und ich schnell aussteigen kann, damit mich die Gedanken der anderen Reisenden bezüglich meiner respektlosen Unhöflichkeit gegenüber Obdachlosen nicht mehr treffen. Auf dem Bahnsteig riecht es nach Crêpes und ich denke, verdammt, alles was gegessen wird muss auch geschissen werden und ich brauche frische Luft. Über Tage lehne ich mich an einen Baum. Dann geht es wieder.
#29
Schlagwörter:
Kommentar verfassen