„Ich habe mir zwei Stunden Wahlberichterstattung reingezogen gestern Abend, lineares Fernsehen, zum ersten Mal seit der letzten Folge „Wetten, dass..?“, Gottschalk hab ich natürlich nur ironisch geguckt; später dann noch bei Caren Miosga reingeschaltet, macht sie gut, finde ich; jedenfalls haben alle versucht, es zu erklären, die einen so, die anderen so; aber ich verstehe es nicht, verstehst du es? Du bist doch Ossi – deine Worte, nicht meine. Kannst du das erklären?“ Tanja zieht die Schultern hoch, als hätte sie keinen Hals.
Ich hebe den Blick vom Bildschirm und lasse ihn aus dem Fenster durch den Garten im Hinterhof schweifen. Die Äpfel sind reif. Die Birnen sind reif. Die Wespen knallen wiederholt gegen die Scheibe. Ich rolle mit den Augen und schnalze mit der Zunge. [Man soll beim Schreiben Adjektive vermeiden, um Emotionen auszulösen, sondern stattdessen lieber beschreiben, welche Handlungen die Emotionen bei der Figur bewirken. So können die Emotionen ohne das ihnen zugeordnete Wort beim Lesen erzeugt werden. Beispielsweise „Sie legte die Stirn in Falten“ für skeptisches Erstaunen oder „Er blies die Backen auf“ für Ratlosigkeit und Überforderung. Oder eben „Ich rolle mit den Augen und schnalze mit der Zunge“ für – ich weiß nicht wofür. Ich habe so viele Emotionen, dass es an Beliebigkeit grenzt. Ich bin genervt, ich bin erschüttert, ich bin traurig, ich möchte das Thema meiden, ich empfinde Ausweglosigkeit, Ratlosigkeit, ich fühle Erschöpfung, Wut, ein bisschen Ekel vor Feindseligkeit, ein bisschen Grusel vor Hass und ein bisschen Scham, weil ich Ossi bin und man mir legitimerweise diese Frage stellen kann.]
„Kann ich das erklären? Ich weiß nicht. Vielleicht kann ich. Es gibt nicht eine Erklärung, es gibt Dutzende. Ein paar Erklärungen würde ich schon zusammenbekommen. Aber ich habe keinen Bock. Ich will es nicht erklären. Ich will es nicht rechtfertigen. Ich habe auch keinen Bock, es zu verstehen. Ich habe nicht mal mehr Bock, es zu verurteilen. Es ist, wie es ist. Wir bekommen, was wir wählen. Wir verdienen, was wir wählen.“ Tanja legt die Stirn in Falten.
„Tanja, diese Leute wählen seit 10 Jahren AfD. Seit 10 Jahren versuchen wir, das zu verstehen und zu erklären. Auch denen, die die wählen, zu erklären, was sie da eigentlich wählen. Wir zetern und warnen. Wir zeigen uns erschüttert und besorgt. Wir gehen in den Dialog. Wir gehen auf die Straße. Wir rufen Nazis raus. Die rufen Deutschland den Deutschen. Wir gehen selbst zur Wahl und wählen was anderes, es ist ja alles besser als das. Aber diese Leute wissen, was sie wählen. Die sind nicht dumm, die haben Bock auf Beef. Die wählen deshalb Faschisten, weil sie Faschismus wollen.“ Tanja schaut nicht mehr auf mein Videobild, sondern auf das Kabel ihres Headsets, das sie langsam, beinahe sorgfältig um ihren Zeigefinger wickelt.
„Und nach diesen Wahlen frage ich mich, ob wir ihnen geben sollten, was sie wählen. Das ist Demokratie. Das sind erwachsene Menschen. Vielleicht ist es Zeit, dass die scheiß AfD dort einfach regiert. Bitte sehr. Die Leute, die braune Suppe gewählt haben, sollen auch braune Suppe löffeln müssen. Ich bin mir sicher, dass alles so beschissen laufen würde, dass die AfD bei der Bundestagswahl nächstes Jahr schlechter dastehen würde. Enttarnt als ein Haufen hasserfüllter Stümper, die nichts auf die Reihe kriegen. Ich bin zuversichtlich, dass die Thüringer und die Sachsen geheilt wären bis zur nächsten Wahl in fünf Jahren. Satt von brauner Suppe. Braune Suppe kotzend. Im Strahl.“ Tanja holt tief Luft.
„Es reicht, Korbi.“
Ich blase die Backen auf.
„Du bist wütend.“
„Ich bin nicht -“
„Du bist wütend.“
„Ich bin wütend. Ich koche vor Wut. Und die können nicht mehr vor lachen. Und das macht mich noch wütender. Ich spüre die Wut körperlich. Sie beißt mich in den Nacken, sie ballt meine Fäuste. Sollen sie sich doch von Nazis regieren lassen. Guten Flug!“
„Du würdest das nicht so sehen, wenn du noch dort leben würdest.“
„Wenn ich noch dort leben würde, hätte ich Angst. Ich bin ein Homo. Mein Mann spricht mit Akzent. Unn keen säggsch.“
Tanja lacht. Sie mag, wenn ich Dialekt spreche. Ich bringe sie gern zum lachen. Ich freue mich, wenn ich Menschen mit meinem Dialekt überraschen kann. Aber es schmerzt auch. Ich kann nur deshalb überraschen, weil ich meinen Dialekt aus meinem Sprechen getilgt habe. Langsam und mühevoll. Aus Gründen.
„Kannst du etwas Konstruktives mit dieser Wut machen?“
„Ich selbst sein. Noch lauter. Noch entschiedener. Noch penetranter. Und mich einsetzen. Für Leute wie mich. Nicht für Leute wie die.“
„Die, wir – das spaltet doch bloß.“
„Ich habe nicht damit angefangen.“
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