#79 Gegen die Vergeblichkeit

„Ich habe gestern oder vorgestern ein neue Wort von dir gelernt, nämlich: Vergeblichkeitsgefühl. Fühlst du das immer noch?“ – „Total.“

Wie sie eine Sekunde Zeit vergehen lässt, bevor sie antwortet.¹ Wie sie hörbar einamtet und zwischen to und tal ein kleines Loch lässt, trifft mich. In dieses Loch falle ich. Ich fühle das. To-tal.

Ich gieße die Astern auf meinem Balkon, während ich den Podcast höre. Ich stelle die Kanne zur Seite, greife zu meinem Telefon und höre die Stelle noch einmal. Normalerweise ist es erleichternd, sich verstanden zu fühlen. Hier ist es unheimlich. Sich verstanden zu fühen bedeutet Bestätigung. Aber ich läge gern falsch, diesmal. Hier normalisiert sich, was ein hysterisches Gedankenexperiment bleiben sollte: Was wäre denn, wenn die AFD irgendwann mal 30% bei einer Wahl holen würde? Oder noch mehr? Oder bei zwei Wahlen, bei drein? – Das wird nicht passieren, möchte ich denken dürfen. Das ist doch absurd. Bleib realistisch, möchte ich sagen dürfen. Aber ich darf nicht. Ich darf auch nicht: mich der Realität verweigern.

Ich höre den Podcast weiter und wünsche mir, dass diese beien klugen Frauen über Lösungen sprechen. Mir eine Idee präsentiern, wenigstens eine. Klüger sind als ich. „Es wurde alles versucht. Nichts hilft.“, sagt die eine Frau stattdessen irgendwann. Die andere moderiert darüber hinweg.

Mein Blick schweift auf die kleine Straße vor meinem Balkon, auf Biggi, die Hundesitterin mit ihrem kleinen Rudel. Auf den Boten, der palettenweise Kartons an den Händler für hochwertige Kaffeemaschinen auf der anderen Straßenseite liefert. Auf den Radfahrer mit Helm im Fliegenpilzdekor. Die auch?, frage ich mich. Wählen die auch Faschisten? Auf keinen Fall, ich bin mir sicher. Ich kann es nicht wissen. Aber ich bin mir sicher.

Als ich vor ein paar Tagen schon einmal über dieses Thema nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich lauter und entschiedener ich sein muss, so laut und entschieden, wie die die sind. Keinen Platz machen. Mich nicht wegducken. Das einbringen, was ich einbringen kann. Was kann ich einbringen?

Ich kann denken und darüber schreiben. Mein Publikum ist klein, aber manchen, die meine Zeilen lesen, tun sie gut.

Und: Ich kann finanziel unterstützen.

  • Ich werde noch an diesem Abend Kompliz:in beim Zentrum für politische Schönheit, dem Aktionskunstbündnis das von Bernd Höcke so gehasst wird, wie sonst eigentlich nur Migranten.
  • Ich werde noch an diesem Abend Mitglied im LSVD, weil er sich für die Rechte und das Wohlbefinden derjenigen einsetzt, gegen die es als nächstes Gehen wird, wenn sie mit den Migranten fertig sind. Lesben, Schwule, Queers.
  • Ich fange an, die Hirschfeld-Eddy-Stiftung regelmäßig zu unterstützen, weil sich für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender-Menschen weltweit einsetzen und wir viel zu oft vergessen, dass man in weiten Teilen der Welt immer noch in den Knast wandern kann, falls man sich als Mann in einen Mann verliebt.
  • Ich werde regelmäßiger Unterstützer von des Recherchenetzwerks Correctiv, das unermüdlich gegen Falschmeldungen und Propaganda vorgeht.
  • Ich werde Fördermitglied bei Greenpeace weil Klimaschutz Lobbyismus braucht, so absurd sich das vor Jahren angesichts der anstehenden Klimakatastrophe noch angehört hätte.
  • Ich richte einen Dauerauftrag für Hinz & Kunzt ein, das Obdachlosenmagazin, das Bedürftigen dabei hilft, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne dabei ihre Würde zu verlieren.

Ob das nicht ein bisschen aktionistisch ist? – Oh, doch. Genau das, was wir jetzt brauchen.

Ob das nicht etwas übertrieben ist? – Das hoffe ich sehr.

Ob ich glaube, dass es reicht ein bisschen Geld zu spenden, um unsere Demokratie zu stärken? – Mitnichten, aber schaden kann es nicht.

Ich habe auch überlegt, wieder Mitglied der Partei zu werden, der ich mich am nächsten fühle. Ich habe inzwischen verstanden, dass niemand – mit Ausnahme von Sarah Wagenknecht – eine Partei findet, die exakt das repräsentiert, was man selbst für richtig hält. Ich dachte ich sei bereit, das auszuhalten. Bin ich aber nicht.² Ich gehe auf Demos. Ich arbeite für ein Unternehmen, das die Klimakatastrophe bekämpft. Davon ab liege ich auch gern auf dem Sofa, das gebe ich zu.

Ob das schon alles ist, was ich tue? – Und du?


1) Politik mit Anne Will,  Folge vom 5.9.24, „Wie weiter nach der Wahl? Mit Anne Hähnig und Bodo Ramelow“, abrufbar bspw. bei Podigee.

2) Dass Frauen bei den Grünen mehr als doppelt so hohe Chancen auf ein Parteiamt haben wie Männer, obwohl sie nur 40% der Mitgliederbasis stellen, kann ich nicht richtig finden. Erstens wird so unwahrscheinlicher, dass die Person mit der besten Eignung und dem besten Sachverstand in das Amt gelangt, das zu ihr passt und zweitens ist es schreiend sexistisch. Frauenstatut der Grünen. Mitgliederanteil der Grünen laut Statista.



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